Am 24. September 2024 hat der Nationalrat die Motion 24.3057 der SVP-Fraktion angenommen, mit der gefordert wird, den Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene im Rahmen der nächsten Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes abzuschaffen. Das Flüchtlingsparlament Schweiz (www.flüchtlingsparlament-schweiz.ch) ist schockiert über diese Entscheidung und spricht sich dezidiert gegen diesen Entscheid des Nationalrats aus – aus verschiedenen Gründen:
- Sowohl vom Bundesrat wie auch in der Parlamentsdebatte wurde darauf verwiesen, dass die Abschaffung des Familiennachzugs nicht nur der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK, sondern auch der Bundesverfassung widersprechen würden. Wie konnte eine Mehrheit des Nationalrats eine Motion annehmen, die der Verfassung widerspricht, auf die sie ihren Amtseid resp. ihren Treueschwur geleistet hat?
- In der Präambel der Bundesverfassung wird betont, dass sich die Stärke des Landes am Wohl der Schwächsten bemesse. Mit diesem Entscheid wird Symbolpolitik betrieben auf dem Buckel der Schwächsten, der Vulnerabelsten in diesem Lande.
- Möglich gemacht wurde dieser Entscheid im Nationalrat durch die Fraktionen der SVP, der FDP und der Mitte. Auch wenn wir mit der SVP-Fraktion natürlich nicht einig sind in dieser Frage, politisiert sie konsequent: es ist ihr explizites (wenn auch schockierendes) Ziel, dass die Schweiz aus der EMRK austritt – ein Entscheid, der gleichentags von einer Mehrheit des Nationalrats abgelehnt wurde.
Dass allerdings auch die FDP, die Gründer-Partei der auf liberalen Grundrechten aufbauenden Schweiz und der Bundesverfassung, in der diese niedergelegt sind, mehrheitlich einem zutiefst illiberalen Vorhaben, das ebendieser Verfassung widerspricht, zustimmt, ist nicht mit den Grundwerten vereinbar, für die diese Partei sich ursprünglich eingesetzt hat.
Und auch eine Mehrheit der Mitte-Fraktion im Nationalrat stimmte der Motion zu. Die Mitte, die sich gerne als „Familienpartei“ positioniert, scheint nicht bereit zu sein, sich konsequent auch für diese, die schwächsten Familien in der Schweiz einzusetzen . Auch sie stellt sich mit diesem Mehrheitsentscheid fundamental gegen die zentralen Werte, für die sie sich ausspricht.
Wir suchen das Gespräch mit der Mitte und der FDP. Sind ihnen die menschlichen Konsequenzen ihres Handelns bewusst? Wir wenden uns mit diesem offenen Brief an die schweizerische Öffentlichkeit und insbesondere an den Ständerat, der diesen Entscheid nun dringend und verantwortungsvoll korrigieren muss. Ein erster Schritt wurde vom Ständerat in der Debatte vom 25. September gemacht, indem er die gleichlautende Motion 24.3511 von SR Esther Friedli an die Kommission zurückgewiesen hat. Er reagiert damit auch auf einen beispiellosen Appell, der innert weniger als 24 Stunden von mehr als 120‘000 Menschen unterzeichnet wurde.
Die Schweiz ist punkto Familiennachzug keine Vorreiterin in Europa. Gerade eben wurde sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt, weil sie beim Familiennachzug das Recht auf Familienleben gemäss Gerichtshof nicht genügend schützt. Im Unterschied zu zahlreichen anderen europäischen Ländern gibt es in der Schweiz auch kein Recht auf einen umgekehrten Familiennachzug, dass Kinder ihre Eltern unter gewissen Bedingungen nachziehen dürfen – auch damit hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich hinterher.
Vorläufig Aufgenommene – in der Regel Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder anderen instabilen Ländern – sind in der Schweiz nicht als politische Flüchtlinge anerkannt; sie bleiben aber in der Schweiz, solange sich die Situation in ihren Herkunftsländern nicht verbessert. Diese Geflüchteten können ihre Familie nur in die Schweiz nachziehen, wenn sie finanziell selbständig sind und eine geeignete Wohnung gemietet haben. Die Bezeichnung „vorläufig Aufgenommene“ ist insofern irreführend, da die grosse Mehrheit dieser Menschen dauerhaft in der Schweiz bleibt – eben weil sich die Situation in diesen Ländern meistens nicht schnell verbessert.
Das Flüchtlingsparlament Schweiz appelliert an die humanitäre Tradition der Schweiz und fordert das Parlament auf, keine Symbolpolitik auf dem Rücken der Schwächsten unter uns zu machen. Insbesondere die Fraktionen von FDP und Mitte erinnern wir an ihre Grundwerte!
Mit freundlichen Grüssen, für die Koordination des Flüchtlingsparlaments
Peter Mozolevskyi, Mahtab Aziztaemeh, Shishai Haile