Offener Brief zur besorgniserregenden Situation von Kindern in der Nothilfe in der Schweiz

Zürich, 1. Oktober 2024

An die Entscheidungsträger:innen des Kantons Zürich

Sehr geehrter Herr Regierungsrat Mario Fehr
Sehr geehrte Damen und Herren des Kantonsrats
Sehr geehrte Damen und Herren des kantonalen Migrationsamtes
Sehr geehrte Damen und Herren des kantonalen Sozialamts

Zum ersten Mal hält eine breitangelegte, wissenschaftliche Studie des Bundes1 fest: «Kinder und Jugendliche, die in der Nothilfe leben, sind grossen Risiken in Bezug auf ihr Wohl, ihre Gesundheit und Entwicklung ausgesetzt. Ihr Wohlergehen ist stark gefährdet.» Besonders besorgniserregend, schreiben die Studienautorinnen, ist der schlechte psychische Zustand. «Die soziale Isolation, die sie umgebende Perspektivlosigkeit und ihre Ohnmacht in der Folge von Entscheiden, an denen sie nicht partizipieren können – das alles macht sie verletzlich und schwächt sie dauerhaft». Die Kinder erleben eine Reihe «verstörender und kontinuierlich traumatisierender Ereignisse» in den Kollektivunterkünften.
Das Rechtsgutachten2 zur Studie kommt zum Schluss, dass die gegenwärtige Situation der Kinder in der Nothilfe geltendes Recht verletzt. Sie verstösst gegen die UN-Kinderrechtskonvention sowie gegen verfassungsrechtliche Bestimmungen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen.

→ Wir alle, die diesen Brief unterzeichnen, kennen die in der Studie beschriebene äussert prekäre Situation der betroffenen Kinder im Kanton Zürich und begleiten sie und ihre Eltern, teilweise seit Jahren. Bei Besuchen in den Kollektivunterkünften, in unseren Projekten oder Therapiestunden sehen wir die Kinder, ihre Resilienz – und ihre Not.

Trotz viel Freiwilligeneinsatz und/oder therapeutischer Expertise können wir die Not der Kinder nur begrenzt lindern, denn das Leiden der Kinder wird durch ihre behördlich auferlegten Lebensbedingungen ständig aufrechterhalten. So hält auch die Studie fest: Es sind Politik und Behörden, die handeln müssen!

→ Wir, die unterzeichnenden Organisationen, möchten Sie bitten, die Handlungsempfehlungen der Studie3 ernstzunehmen und umzusetzen:

  • Langzeitbezüge (mehr als ein Jahr) von Nothilfe durch Kinder und Jugendliche vermeiden
  • Bei einem Langzeitbezug die Lebensbedingungen zusätzlich verbessern
  • Soziale Teilhabe sicherstellen
  • Familiengerechte Unterkünfte mit Rückzugs- und Lernmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zuweisen
  • Gezielte Förderung ermöglichen
  • Unterstimulation bei Kindern im Vorschulalter verhindern
  • Zugang zur Volksschule und zur Berufsbildung verbessern
  • Zugang zu medizinischen Behandlungen erleichtern
  • Psychologische Betreuungsangebote bereitstellen
  • Psychologische Unterstützungsprogramme entwickeln
  • Freizeitbeschäftigungen zugänglich machen
  • Klare Zuständigkeiten und Abläufe für den Umgang mit Gefährdungen definieren
  • Einheitliche und verbindliche Standards definieren und deren Einhaltung regelmässig überprüfen

Alle unterzeichnenden Organisationen sind interessiert an einem Dialog mit Ihnen, um gemeinsam an der Umsetzung der Handlungsempfehlungen zu arbeiten. Das Kindswohl steht an erster Stelle. Dieser Grundsatz muss uns leiten.

Wir hoffen, dass Sie sich von der Studie berühren lassen und in Gedanken an die Kinder für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen einstehen. Herzlichen Dank!

Mit freundlichen Grüssen
Die unterzeichnenden Organisationen

Kontakt für alle unterzeichnenden Organisationen:
Solinetz Zürich, Hanna Gerig und Malek Ossi
info@solinetz.ch, 044 291 96 94 / 079 726 41 55 / 078 962 10 87

augenauf Zürich
8000 Zürich
Kontakt: Lilo König, koenig@augenauf.ch

Autonome Schule Zürich/ Verein Bildung für Alle
Postfach 1058, 8031 Zürich
Kontakt: Sadou Bah und Anastasia Gerber, schulbuero2019@gmail.com

Deutschintensiv Solinetz Winterthur
Tösstalstrasse 86, 8400 Winterthur
Kontakt: Markus Egli, eglimarkus54@gmail.com

family-help
Arterstrasse 24, 8032 Zürich
Kontakt: Sandra Rumpel, sandra.rumpel@hin.ch

Flüchtlingsparlament und NCBI Schweiz
Hobelwerkweg 37 A, 8404 Winterthur
Kontakt: Ron Halbright, office@flüchtlingsparlament-schweiz.ch

OFF Ort für Frauen
Stauffacherstrasse 10, 8004 Zürich
Kontakt: Esther Hirzel, esther.hirzel@offort.ch

Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich SPAZ
Kalkbreitestrasse 8, 8003 Zürich
Kontakt: Bea Schwager, bea.schwager@sans-papiers.ch

Verein migrationscharta.ch
Postfach, 3008 Bern
Kontakt: Verena Mühlethaler, verena.muehlethaler@reformiert-zuerich.ch

Welcome to school
Militärstrasse 109, 8004 ZürichKontakt: Katrin Jaggi, katrin.jaggi@welcometoschool.ch

SPORTEGRATION
Gotthardstrasse 52, 8002 Zürich
Kontakt: Annina Largo, a.largo@sportegration.ch

Zurich Legal
Badenerstrasse 18, 8004 Zurich
Kontakt: info@zurichlegal.ch

 

1 Lannen, Patrizia; Paz Castro, Raquel; Sieber, Vera (2024): Kinder in der Nothilfe im Asylbereich. Systematische Untersuchung der Situation in der Schweiz. Herausgegeben von der Eidgenössischen Migrationskommission EKM. Bern.

2 Amarelle, Cesla und Zimmermann, Nesa (2024): Das Nothilferegime und die Rechte des Kindes. Rechtsgutachten und Studie zur Vereinbarkeit mit der schweizerischen Bundesverfassung und der Kinderrechtskonvention. Herausgegeben von der Eidgenössischen Migrationskommission EKM. Bern.

3 Gemäss Handout der EKM an der EKM-Tagung zur Studie, 6.9.2024.

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