Die psychische Gesundheit ist für Geflüchtete ein eminent wichtiges Thema – für das Flüchtlingsparlament ist deshalb die Lancierung und die Weiterführung des Programms R ein wichtiges Anliegen. Die Kommission „Psychische Gesundheit“ des Flüchtlingsparlaments hat anlässlich der Tagung vom 29. November 2023 in Bern das folgende Statement zur psychischen Gesundheit von Geflüchteten vorbereitet.
Wir begrüssen Verbesserungsvorschläge und Unterstützung für dieses Statement.
1 Belastet – trotz Resilienz
Es ist beeindruckend, wie gut viele Geflüchtete trotz traumatisierender Erlebnisse im Herkunftsland, auf der Flucht und trotz belastender Situationen in der Schweizer Gesellschaft funktionieren. Wer in die Schweiz flüchtet, hat offensichtlich viele Ressourcen mobilisieren müssen – und bringt diese hierher mit. Doch leider fühlen sich viele Geflüchtete zunehmend krank, je länger sie in der Schweiz sind. Das liegt an zahlreichen postmigratorischen und asylpolitischen Faktoren, d.h. belastende Asylverfahren; lange Wartezeiten; Konflikte und Stressoren in den Asylunterkünften; Ungleichbehandlungen, wie sie in einem föderalistischen System zuhauf vorkommen; Herausforderungen bei der Integration; schwierige Situationen mit Behörden und mit anderen Instanzen (Betreuung, Nachbarschaft, Polizei usw.); Bedenken über die eigene getroffene Fluchtentscheidung; Sorgen über Familienmitglieder, die im Heimatland, noch auf der Flucht oder sonst wo sind; Erfahrungen der Diskriminierung u.v.m…
Leider werden Geflüchtete nach der Ankunft in der Schweiz zuerst in die Passivität gedrängt, was belastend wirkt – in der Ruhe haben sie Zeit für Perspektivlosigkeit, Albträume, Schlaflosigkeit und weitere Symptome. Es wirkt so, dass die Migration und das Schweizer Asylsystem viele von ihnen krank macht.
2 Diskriminierung führt nicht nur zu psychischen, sondern auch zu physischen Belastungen
In der Schweiz noch wenig diskutiert und erforscht ist das Phänomen des „Weathering“ („Verwitterung“). Grosse Stressoren, Angst und erhöhte Wachsamkeit wegen potenzieller Verletzungen beeinflussen nicht nur das psychische Wohlbefinden, sondern auch den Stoffwechsel und die Hirnstrukturen. Auf Englisch wird dieses Phänomen Verwitterung genannt, weil die ständige Reibung mit der Umwelt die Gesundheit belasten, abnützen und somit schädigen kann, wie viele Untersuchungen zeigen. Geflüchtete erleben Diskriminierungserfahrungen im Alltag, bei der Arbeits- und Wohnungssuche, in der Schule, im Gesundheitswesen, in der Nachbarschaft und mit der Verwaltung. Dazu gibt es Aussagen in der Politik z.B. bei den Wahlen, die verletzend sind. Weil solche Erfahrungen prägen, werden sie auch der nächsten Generation (und der übernächsten) weitergegeben.
Erziehungsformen werden angepasst, um die eigenen Kinder vor solchen schmerzhaften Erfahrungen zu schützen. Hinterfragt werden aber nicht die belastenden Strukturen – der Fokus liegt oftmals darauf, dass die Kinder sich anpassen, um in dieser Umwelt nicht aufzufallen und so keine Angriffsfläche zu bieten.
3 Es braucht kulturell sensible und systemische Lösungsansätze
Nicht nur wegen der neuen Sprache haben Geflüchtete spezifische, kulturbedingte Bedürfnisse. Auch ihre Konzepte von Gesundheit und Krankheit, vom Innenleben und von Genesung unterscheiden sich von denjenigen der Schweizer Mehrheitsbevölkerung. In einigen Ländern ist das Reden über psychische Gesundheit stark tabuisiert.
In der Regel kommen Geflüchtete aber auch aus Kulturen, die weniger individualistisch als die Schweizer Mehrheitskultur aufgebaut sind und in denen die Gesellschaft weniger stark institutionell ausdifferenziert ist. Die erweiterte Familie und ausgewählte Landsleute können im Herkunftsland eine wichtige Rolle bei der Genesung spielen. Sie sind auch in der Schweiz eine fast unverzichtbare Ressource für das Wohlergehen – gerade in besonders belasteten Situationen. Mit einer geeigneten Weiterbildung, Lebens- und Migrationserfahrung sowie Unterstützung von transkulturell kompetenten medizinischen Fachpersonen können Schlüsselpersonen (Brückenbauer:innen, Helper usw.) Landsleute wirksam und effizient begleiten und unterstützen. Solche Angebote sind notwendig vom ersten Tag an – ab der Ankunft in den Bundesasylzentren (BAZ). Je früher psychisch belastete und traumatisierte Geflüchtete Hilfe erhalten und jemandem vertrauen können, desto eher kann ihnen effektiv geholfen werden und desto weniger chronifizieren sich bestimmte Symptome. Je früher solche Angebote zur Verfügung stehen, desto eher verringern sich auch die Folgekosten einer unterlassenden oder zu spät erfolgten Begleitung.
Eminent wichtig ist auch, dass die verschiedenen involvierten Beratungs- und Betreuungsfachpersonen (Sozialdienst, Schule, KESB, Arbeitsintegration/Bildung u.a.), die eine:n Klient:in begleiten, systemisch und vernetzt arbeiten. Eine klar definierte Hauptbezugsperson, die die ganzheitliche Situation einer geflüchteten Person im Blick hat und nicht nur einen Teilaspekt, für den sie zuständig ist, ist zentral.
4 Leitsätze für die psychische Gesundheitsförderung für Geflüchtete
Aus den Erfahrungen, die NCBI mit dem Projekt „Brückenbauer:innen für die psychische Gesundheit von Geflüchteten“ seit 2020 gemacht hat sowie aus den Diskussionen mit Geflüchteten und Fachpersonen im Rahmen der Kommission „Psychische Gesundheit“ des Flüchtlingsparlaments Schweiz haben wir die folgenden Leitsätze für die psychische Gesundheit von Geflüchteten entwickelt:
- Ein partizipativer Einbezug bei der Entwicklung der Ansätze für psychischen Gesundheitsförderung ist
wichtig: Information, Mitsprache und die Möglichkeit, möglichst Vieles für sich selber zu entscheiden,
stärken die psychische Gesundheit – Willkommenskultur, Zukunftsperspektiven, Tagesstrukturen, Aufbau
von Vertrauen, Stärkung und Ermöglichung von Freundschaften, niederschwellige Therapieangebote…
sind in diesem Kontext einige zentrale Bausteine. - Die Strukturen in der Schweiz wirken manchmal als Stressoren und lösen zusätzliche Belastungen aus:
Institutionen und Personen, die mit Geflüchteten arbeiten, sollen es deshalb vermeiden, belastende und
stresserhöhende Massnahmen zu ergreifen: Warten und verlorene Jahre, Isolation, die Vermittlung von
Schuldgefühlen, das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und eigene Vorstellungen und Wünsche
nicht einbringen zu können, Vorurteile im Alltag, in der Gesellschaft und in der Politik… sind einige Beispiele,
die von Geflüchteten immer wieder als belastende Stressoren genannt werden. - Wer Geflüchtete als Fachpersonen oder als Freiwillige begleitet und betreuet, soll sensibilisiert sein bezüglich
ihrer transkulturellen Kompetenzen, aber auch bezüglich der Effekte, die Vorurteile und Diskriminierungserfahrungen
bei den Geflüchteten auslösen können. So können sie der „Verwitterung“ durch
antidiskriminatorische Ansätze besser entgegenwirken. - Eine gezielte Aus- und Weiterbildung und insbesondere starke transkulturelle Kompetenzen sind zentrale
Voraussetzungen für alle Personen, die mit Geflüchteten arbeiten – das gilt nicht nur für Sozialarbeitende,
Mitarbeitende im Gesundheitswesen und Betreuungspersonen, sondern auch für Asylbefragende,
Mitarbeitende in Sicherheitsdiensten in Asylzentren oder ihre Lehrpersonen. - Kommen wir weg von defizitorientierten Ansätzen! Geflüchtete haben gezeigt, dass sie viel Resilienz mitbringen
– diese gilt es einzubeziehen und zu stärken.